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Gehen: Ihre größte Leidenschaft

Quelle: Richard Schmid DK

Das Gehen als leichtathletische Disziplin hatte in Delmenhorst bis in dies achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts einen großenStellenwert. Nicht zuletzt Julius Müller sorgte in den sechziger und siebziger Jahren weit über die Grenzen der Delme-Stadt hinaus mit seinen Erfolgen und Leistungen, dass Delmenhorst auf der Geher Landkarte einen festen Platz erhielt. Selbst internationale Geher Wettkämpfe fanden im Stadion an der Düsternortstraße statt. Doch seit einigen Jahrzehnten fristet diese olympische Disziplin ein Schattendasein, in Delmenhorst taucht sie im Wettkampfkalender mangels aktiver Geherinnen und Geher gar nicht mehr auf.

Geht es nach Renate Köhler vom TV Jahn Delmenhorst soll sich dieser Zustand demnächst deutlich ändern. Die 73-jährige Leichtathletin schickt sich an, diese Sportart aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken und in der Stadt an der Delme neu zu etablieren. Dabei hat Köhler das sportliche Gehen erst dank der Corona Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen für sich entdeckt. Während Corona die sportliche Betätigung in den Vereinen in den letzten beiden Jahren über Monate weitgehend lahm legte, hatte sie zunächst mit „Walking“ begonnen. „Gehen in öffentlichen Parks und Anlagen war ja möglich“, sagt sie. Doch das einfache „Walking“ wurde ihr bald zu langweilig. „Ich war zu schnell, da konnte keiner mithalten, selbst einige Jogger konnten meinem Tempo nicht folgen“, erzählt sie lachend. Köhler wollte mehr, nur spazieren gehen reichte ihr nicht. „Ich habe mich daraufhin bei zahlreichen Vereine erkundigt, wer denn Gehen als Sportart anbietet. Beim BTB Oldenburg bin ich dann fündig geworden“, sagt sie. Sehr schnell erlernte sie auch unter Anleitung von Andreas Ritzenhoff vom BTB die Grundlagen der technisch anspruchsvollen Sportart. „Ich habe mir zudem vieles selbst beigebracht, mir die erforderliche Technik im Internet abgeschaut, denn das Erlernen von Techniken nicht nur im Sport hat mich schon immer sehr interessiert“, berichtet Köhler, die früher als technische Zeichnerin beruflich engagiert war.

Innerhalb kürzester Zeit beherrschte sie die Technik, so dass sich bereits 2021 erste große Erfolge einstellten. In ihrer Altersklasse W 70 wurde sie norddeutsche Meisterin und belegte bei den nationalen Senioren Meisterschaften den zweiten Platz. In der deutschen Jahresbestenliste des letzten Jahres rangierte die Newcomerin im 10km Gehen mit ihrer Zeit über alle Altersklassen hinweg auf einem hervorragenden 20. Rang. Nahtlos knüpfte die Delmenhorsterin, die inzwischen für den TV Jahn startet, an ihre Erfolge des Vorjahres an. Neben ihrem deutschen Meistertitel im 10km Straßengehen wurde sie bei den Europameisterschaften mit neuer persönlicher Bestzeit von 1:17:40 Stunden in der Altersklasse W 70 sehr gute Sechste. Diesen Erfolg wiederholte sie nur wenig Wochen später bei den im finnischen Tampere ausgetragenen Weltmeisterschaften, wo sie sich zudem mit dem deutschen Team über eine Silbermedaille freuen konnte.

Eigentlich gehört bis vor kurzem nicht so sehr die Leichtathletik, sondern eher das Tanzen zu ihrer großen Leidenschaft. „Ich habe mein Leben gern getanzt“, erzählt sie. Nicht immer im Verein, sondern einfach „just for fun“, sagt sie. Als alleinerziehende Mutter war es für sie nicht so einfach, sich den regelmäßigen Trainingszeiten der Vereine unterzuordnen. Erst als 56-jährige fand sie den Weg zunächst zum Delmenhorster TV und wechselte, da der DTV sich nicht im Turniertanz engagierte, zum TV Jahn. Bereits nach kurzer Zeit stellten sich erste Erfolge ein. „Wir gehörten in den Altersgruppen bis 55 und bis 65 Jahre bald zu oberen Level“, berichtet sie. Doch nachdem vor zwölf Jahren Köhlers Tanzpartner altersbedingt aufhören musste, war es zumindest mit dem Turniertanz vorbei. „In meinem Alter ist es schon schwierig, geeignete Tanzpartner zu finden“, sagt sie mit leisem Bedauern. Um sportlich fit zu bleiben, schloss sie sich die inzwischen über 60-jährige dem Delmenhorster Verein „fit for fun“ an. Das blieb auch so, bis der Corona bedingte Lockdown dieses Engagement beendete. „Da war dann guter Rat teuer“, meint sie. Laufen kam für Köhler aufgrund ihrer Probleme mit ihrem rechten Knie nicht in Frage. „Da bot sich dann das Gehen an“, so Köhler, die in jungen Jahren bei ihren sportaffinen Eltern diese leichtathletische Disziplin im Fernsehen zum ersten Mal wahrnahm. Auch die Delmenhorster Geherwettkämpfe in den siebziger Jahren hatte sie noch in Erinnerung. So war dann der Weg nicht mehr weit, sich selbst die Grundlagen des sportlichen Gehens anzueignen.

Ihr sportlicher Ehrgeiz ist ungebrochen. „Ich will mich ständig verbessern“, sagt die leidenschaftliche Geherin. Für kommendes Jahr will sie auch die 20 km Strecke bewältigen. „Das ist neben dem Ziel, meine Technik zu vervollkommnen, die nächste Herausforderung“, sagt sie. Ihre Trainingspläne stellt sie weitgehend selbst zusammen, betreibt zudem Krafttraining in den eigenen vier Wänden und will – so ihr ambitioniertes Ziel – alle deutschen Meistertitel in ihre Altersklasse einheimsen. „Und natürlich will ich wieder an Europa- und Weltmeisterschaften teilnehmen.“ Neben ihren eigenen sportlichen Zielen will sie die alte Delmenhorster Gehertradition wiederbeleben. „Ich möchte gerne junge Menschen motivieren, mit dem Gehen anzufangen“, sagt sie. Daneben würde sich Köhler freuen, wenn im Rahmen der Leichtathletik Veranstaltungen in Delmenhorst auch das Gehen angeboten werden würde. Ein Anliegen, mit dem sie bei Wolfgang Budde, dem Vorsitzenden des Leichtathletikkreises Delme-Hunte, durchaus auf offene Ohren stößt. „Warum nicht, das wäre sich eine Bereicherung für unsere Sportart. Aber was fehlt, sind ausgebildete Gehrichter. Wenn wir das hinbekommen, sehe ich kein Hindernis“, meint Budde.

Apropos Gehrichter. Beim leichtathletischen Gehen darf für das menschliche Auge kein sichtbarer Verlust des Bodenkontakts vorkommen. Zusätzlich muss das vordere Bein beim Aufsetzen des Bodens gestreckt sein. Das alles überwachen speziell ausgebildete Gehrichter. Wer nicht sauber nach diesen Regeln geht, riskiert nach vorhergehenden Verwarnungen eine Disqualifikation. „Ich selbst bin noch nie disqualifiziert worden, im Gegenteil, ich werde des Öfteren aufgrund meiner Technik sogar ausdrücklich gelobt“, freut sich Köhler.